31. Januar 2024, von Constanze Broelemann

«Ich möchte eine Sprache finden, wenn Worte fehlen»

Klinikseelsorge

Der Weg der menschlichen Seele ist für Seelsorgerin Patrizia Weigl-Schatzmann ein Faszinosum. Sie spricht über ihre Begegnungen mit Menschen in schweren Lebenssituationen

Nach unserem Gespräch setzen Sie Ihre Arbeit auf der psychiatrischen Forensik fort. Wie sieht Ihr Alltag dort aus?

Patrizia Weigl-Schatzmann: Ich biete in der Seelsorge einen Schutzraum, einen Gesprächsraum, in dem nicht bewertet, nicht verurteilt wird. Das ist auf einer forensischen Station besonders relevant, weil die Menschen dort unter ständiger Beobachtung stehen. Alles, was sie sagen oder nicht sagen, kann Konsequenzen für sie haben. 

Erzählen die Menschen von ihren Delikten oder Diagnosen?

Ja, oft. Aber ich beurteile den Menschen nicht nach seiner Erkrankung oder danach, was er getan hat. Ich sehe die Person und die verdient Respekt. Ich vergleiche das immer mit dem Allerheiligsten im Tempel, das wir aus dem Alten Testament kennen. Jeder Mensch hat so ein Allerheiligstes in sich, das schützenswert ist. Wenn ich als Seelsorgende dahin eingeladen werde, ziehe ich die Schuhe aus, um im Bild zu bleiben.

Warum arbeiten Sie gern mit Menschen im Spital, in der Psychiatrie?

Mich hat schon immer der Weg der menschlichen Seele fasziniert. Wie sie sich ihre Aus- und Umwege sucht. Bei Menschen mit schwierigsten Biografien kann das natürlich im Extremen, also in Straftaten münden. Das ist nicht zu entschuldigen. Und dennoch tut sich bei jeder Geschichte immer auch etwas auf, worin ich mich als Mensch wiederfinde.

Was meinen Sie damit?

Von der Dynamik der Psyche her sind Handlungen oft nachvollziehbar, auch wenn sie falsch sind. Für mich verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen den Menschen, die «drinnen», also in einer geschlossenen Abteilung, sind, und denjenigen, die «draussen» sind. Der Lebensweg eines Menschen hat oft mit Glück, eigener Resilienz oder, um es theologisch zu sagen, mit Gnade zu tun. Mich macht diese Erkenntnis in gewisser Weise demütig.

Ihre Klientinnen und Klienten schätzen die Gespräche?

Ja. Mein Auftrag als Seelsorgende hat viel mit Gesehenwerden zu tun. «Du bist ein Gott, der mich sieht», heisst es ja in der Bibel. Und das Gesehenwerden kann für Menschen, die schwer Lebenswege gehen müssen, eine sehr korrigierende Erfahrung sein. Das hat ganz viel mit der Menschenwürde zu tun.

Sie haben viel Erfahrung im Umgang mit Menschen, die an Demenz leiden. Wann war Ihre letzte Begegnung?

Auf der Alterspsychiatrie, wo Menschen mit fortgeschrittener demenzieller Erkrankung leben. Es war an einer Weihnachtsfeier, als ich einem Mann begegnete, der unruhig war, weil er seine Frau suchte. Irgendwann sassen wir alle zusammen, sangen Weihnachtslieder und der Mann wiegte sich im Takt. Ich sass ihm gegenüber, als er zu mir sagte: «Ach Rösli, jetzt bist du doch noch gekommen.» Da habe ich ihm nicht widersprochen, weil ich dahinter das menschliche Grundbedürfnis gesehen habe, in Gemeinschaft und Geborgenheit Weihnachten mit seiner Frau zu erleben. Ein Beispiel dafür, dass das Herz nicht dement wird.

Wie gehen Sie mit den an Demenz Erkrankten um?

Ich versuche herauszufinden, was mir die Person eigentlich sagen will, also implizit. Ich versuche eine Sprache zu finden, wenn Worte fehlen. Der ältere Herr zeigte das Bedürfnis, mit seiner Frau Weihnachten feiern zu können. 

Was hilft für das Verstehen? 

Anzufangen, sich gänzlich in die erkrankte Person hineinzuversetzen. Zu spüren, was bei einem selbst vom anderen ankommt. Ich arbeite mit Übertragungen. Ein Beispiel: In einem Pflegeheim traf ich auf eine Frau. Sie sass am Fenster in einem Rollstuhl und rollte immer wieder vor und zurück. Von draussen ertönte Baulärm und die Frau sagte: «Laut, laut – Bahnhof». Obwohl kein Bahnhof in der Nähe war, haben die Geräusche sie an etwas erinnert – die Hektik ihrer Fluchtgeschichte. Damals war sie in einen Zug gestiegen, um zu fliehen. Der an Demenz erkrankten Frau auszureden, dass dort eigentlich gar kein Bahnhof ist, hätte überhaupt nichts gebracht.

Ganz gleich mit wem Sie sprechen, braucht es vor allem Empathie?

Ja, und zwar Empathie im vollumfänglichen Sinn. Als wenn ich in die Schuhe der anderen Person schlüpfte. Eine Frau mit schweren Depressionen hat mir einmal ihre Schuhe hingestellt und gesagt: «Ziehen Sie die mal an, Frau Pfarrer, und Sie wissen, wie ich mich fühle.» Das tat ich und sagte: «Die sind ja wahnsinnig eng», und sie erwiderte: «Sehen Sie, genauso fühle ich mich.» 


Patrizia Weigl-Schatzmann, 54

Ihr Vikariat hat die Pfarrerin in Bivio gemacht. Sie ist leidenschaftliche Bergsteigerin und wollte sogar mal Bergführerin werden. Die fünffache Mutter hat einen Master in Lösungsorien- tierter Systemischer Therapie (LOS) und ist Kursleiterin für LOS. Sie ist Klinikseelsorgerin an der Psychiatri-schen Universitätsklinik Bern.